Handelsblatt - Preishoheit der Industrie schwindet

Preishoheit der Industrie schwindet

Die Unternehmen rangeln aktuell mit harten Bandagen um ihre Margen. Doch wegen der Konjunkturflaute bröckelt die Macht der Lieferanten gegenüber ihren Kunden – der Druck zu Preissenkungen wächst.

Vor genau einem Jahr strotzten Chemiefirmen noch vor Kraft: Die Nachfrage nach ihren Produkten war groß, die Kunden bezahlten anstandslos höhere Preise. Chemiekonzerne wie BASF, Lanxess oder Covestro konnten die stark gestiegenen Kosten für Rohstoffe und Energie problemlos weiterreichen. Jetzt hat sich die Lage gedreht. Zwar haben die Lieferanten wichtiger Vorprodukte wie Kunststoffe und Chemikalien in den ersten Monaten dieses Jahres noch von erhöhten Preisen profitiert, wie die vorliegenden Quartalszahlen zeigen. Doch ihre Macht, über die Preise zu bestimmen, bröckelt, wie Markus Mayer, Chemieexperte der Baader Bank, konstatiert.

Der Druck zu Preissenkungen wächst jedenfalls beständig. In der Basischemie, also ganz am Anfang der Chemie-Produktionskette, purzeln die Preise schon kräftig: In der entsprechenden Sparte von BASF fielen sie im ersten Quartal um 20 Prozent. Selbst in der normalerweise stabileren Spezialchemie verlieren die Anbieter bei der Preisgestaltung an Macht: Wegen der aktuell schwächeren Nachfrage würden größere Mengen oft nur mit Preisabschlag verkauft, bestätigt BASF-Chef Martin Brudermüller.

Das Phänomen beobachten Beschaffungsexperten in weiten Teilen der zuliefernden Industrie. Die Konjunktur kommt nicht in Fahrt, Lieferengpässe gibt es nur noch wenige: Dies führt dazu, dass „in diesem Jahr ein viel intensiverer Preiskampf zwischen Lieferanten und Herstellern tobt“, sagt Lars-Peter Häfele, Managing Director der Einkaufsberatung Inverto.

Die Motive seien unterschiedlich, beobachtet der gut vernetzte Einkaufsexperte. Manche Firmen stecken im Überlebenskampf. Andere möchten ihre gewonnene Marge aus dem vorigen Jahr verteidigen, um beim nächsten externen Schock nicht gleich wieder in Schieflage zu geraten.

Eine „Gierflation“ kann Häfele in der Industrie jedenfalls nicht erkennen. Hinter dem Begriff steckt der Vorwurf, Unternehmen würden die Preise über das nachvollziehbare Maß hinaus erhöhen – also wesentlich höher, als es mit den gestiegenen Kosten für Rohstoffe und Energie zu begründen wäre. Ökonomen sehen darin einen Treiber der Inflation.

Häfeles Erfahrung lautet: Nur einzelne Industrieunternehmen hätten es geschafft, „Mitnahmeeffekte“ zu generieren und Preise deutlich überproportional zu erhöhen. „Sie werden aber durch ihre Kunden jetzt verstärkt unter Druck gesetzt, die Preise wieder zu reduzieren. In Summe wird aktuell in allen Segmenten mit deutlich härteren Bandagen gekämpft.“ Der Effekt ist bereits spürbar. Zwar ist die Inflation bei den Verbraucherpreisen weiterhin hoch. Doch im Großhandel zeigt sich ein anderes Bild: Erstmals seit zwei Jahren sind im April die Preise in den Geschäften zwischen Handel und Industrie gefallen. Sie sanken um 0,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.

Dies sei der erste Preisrückgang gegenüber dem Vorjahresmonat seit Dezember 2020, als sogar ein Minus von 1,2 Prozent verzeichnet worden war. Im März hatte es noch einen Anstieg von 2,0 Prozent gegeben, im Februar sogar von 8,9 Prozent. Auch von März auf April sanken die Großhandelspreise, und zwar um 0,4 Prozent.

Preisveränderungen im Großhandel kommen in der Regel auch verzögert bei den Verbrauchern an. Mittlerweile sind viele Experten davon überzeugt, dass der Inflationsdruck in den kommenden Monaten nachlassen wird. Allerdings: Es dauert, bis dieser Effekt in der Breite ankommt. „So schnell wie Preise hochgehen, werden sie nicht wieder sinken“, erwartet Häfele.

Konkurrenten leiden weniger unter den hohen Energiekosten

Denn die Belastungen der Industriefirmen werden erst mit Zeitverzug geringer. So sind zwar Rohstoffe und Energie zuletzt deutlich billiger geworden. Das aber gilt zunächst nur für die sogenannten Spotmärkte, auf denen Händler und Unternehmen zu tagesaktuellen Preisen ihren Bedarf decken. In der Praxis haben aber die meisten Unternehmen längerfristige Lieferverträge mit fixen Preisen. Wenn bei Abschluss etwa im vergangenen Jahr das Gas teuer war, profitieren sie so schnell nicht vom aktuellen Rückgang an den Spotmärkten.

Der Kölner Spezialchemiekonzern Lanxess etwa hat im Einkauf und Verkauf viele Verträge, in denen erst zum Quartalsende eine Preisanpassung möglich ist, bei BASF teils erst zum Halbjahr. „Wir haben noch immer hohe Einkaufskosten etwa für Rohstoffe und Energie aus dem vergangenen Jahr in den Büchern und mussten deshalb auch im ersten Quartal die Verkaufspreise hochhalten“, berichtet Vorstandschef Matthias Zachert.

Von „Gierflation“ könne keine Rede sein, sagt der Lanxess-Chef – es gehe allein um das Abfedern explodierender Kosten in der Bilanz. Auch der weltgrößte Chemiehändler Brenntag, der die Produkte bei den Herstellern einkauft und dann weitervertreibt, hält nichts von dem Vorwurf: „Ich kann nicht erkennen, dass Preise über das notwendige Maß hinaus erhöht wurden“, sagt CEO Christian Kohlpaintner.

Zwar gibt kein Unternehmen Details seiner Preisgestaltung und Einkaufsverträge bekannt. Doch die jüngsten Ergebnisse stützen die Sicht, dass zumindest in der Industrie keine „Gierflation“ herrscht. So sind bei Lanxess, beim Leverkusener Kunststoffhersteller Covestro und beim Marktführer BASF die Rohertragsmargen gesunken. Der Wert zeigt an, was vom Umsatz nach Abzug der Materialkosten übrig bleibt.

Das ist ein Indiz dafür, dass die Preise schon im ersten Quartal teils nicht mehr ausreichten, um die höheren Kosten abzufangen. Die Ebitda-Margen, also die Rendite vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen, sind in der Branche ebenfalls gefallen: Bei BASF von 16 auf 14 Prozent und bei Covestro von 18 auf sieben Prozent.

Die Essener Evonik führt noch ein weiteres Argument gegen eine „Gierflation“ in der Industrie an: Die Freiheit bei der Preisgestaltung sei aus Wettbewerbsgründen in einer globalen Industrie wie der Chemie stark eingeschränkt. Die Firmen konkurrieren preislich mit Unternehmen etwa aus den USA und Asien, die das europäische Problem sehr hoher Energiekosten nicht haben, teilte Evonik auf Anfrage mit.

Einkaufsexperte Häfele rät Unternehmen, bei Preisverhandlungen durchaus eine harte Gangart einzulegen. „Im Zweifel sollte man detaillierte Kosten-Aufstellungen einfordern, sich Rechnungen seines Lieferanten zeigen lassen und prüfen, ob er wirklich höhere Belastungen hat.“ Firmen müssen professionell bewerten können, ob Forderungen nach Preiserhöhungen berechtigt sind. „Das gelingt noch nicht vielen.“

ZITATE FAKTEN MEINUNGEN

So schnell wie Preise hochgehen, werden sie nicht wieder sinken. – Lars-Peter Häfele Inverto

 

Quelle: Handelsblatt vom 24.05.2023

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