Inflation

Die Welt in schwarz und grau

 

 

 

Zehn Prozent gehen immer – das lernten alle, die im Einkauf anfingen, in den ersten Wochen im Beruf. Meistens galt es auch in den letzten 50 Jahren. Doch mit der  Inflation, die im vergangenen Jahr einsetzte und zurzeit in der Europäischen Union 6,5 (Frankreich) bis 25,2 (Estland) Prozent erreicht, lässt sich das alte Mantra von  zehn Prozent Kostensenkung pro Jahr nicht mehr realisieren. Einkaufsabteilungen brauchen neue Strategien.

 

Die Erzeugerpreise sind laut Eurostat im August EU-weit um 37,9 Prozent gestiegen, in Deutschland gar um 45,8 Prozent. Das Jahr 2022 wird „die Kostenschocks Mitte der 1970er, Anfang der  1980er Jahre sowie unmittelbar vor der globalen Finanzmarktkrise bei Weitem übertreffen“ heißt es dazu in einer Analyse des Instituts der Deutschen Wirtschaft Köln – gerade auch, da kein Ende der Entwicklung in Sicht ist.

Knappheiten durch kollidierende Entwicklungen

Der aktuelle Kostendruck entsteht aus einer Reihe sich überlagernder Entwicklungen: Die Pandemie sorgt mit erneuten Ausbrüchen rund um den Globus immer wieder für Lockdowns, Produktionsstopps und Logistikengpässen. Der Ukrainekrieg führt zu Knappheiten bei Gas, Rohöl und Industrierohstoffen einerseits, bei Weizen und Speiseölen andererseits. Die massiv  verstärkten Investitionen in Digitalisierung und Elektrifizierung führten zu einer Halbleiterkrise, die immer noch nicht bewältigt ist, auch wenn Produzenten mittlerweile mit hohen  Investitionen neue Werke aufbauen und die Inflation gerade bei Elektronikartikeln für Kaufzurückhaltung sorgt.

Geopolitische Konflikte, maßgeblich zwischen den USA und China, führten schon vor 2020 zu einem Rückgang der globalen Wirtschaftsverflechtungen. Doch erst das Coronavirus hat uns  die wahre Verletzlichkeit der für so stabil gehaltenen weltweiten Lieferketten vor Augen geführt. Zwangsläufig führen die durch Pandemie, Krieg, digitale Innovationen und Strafzölle  hervorgerufenen Probleme zu Verknappungen am Markt und Preissteigerungen. In einer Analyse der Citigroup etwa werden allein die Mehrkosten für Rohstoffe in diesem Jahr auf fünf bis  sechs Billionen Dollar beziffert – das sind nahezu sechs Prozent des weltweiten Bruttoinlandsprodukts.

Früher oder später also holen die Preissteigerungen jedes Unternehmen ein.

Herkulesaufgabe für Einkäufer:innen

Früher oder später also holen die Preissteigerungen jedes Unternehmen ein. Da sie angebotsseitig getrieben sind, gehen wir nicht davon aus, dass schwächere Nachfrage den Kostenanstieg schnell bremsen wird. Stattdessen erwarten wir, dass die höheren Preise durch die Lieferkette weitergegeben werden und nach und nach bei den Verbraucher:innen ankommen. Die Herkulesaufgabe, der  sich Einkaufsabteilungen aller Branchen gegenübersehen, ist: diesen inflationären Druck so weit wie möglich zurückzudrängen. Damit finden sich Einkäufer:innen in einer Situation wieder, die kaum jemand der heute Berufstätigen so schon erlebt hat. Schließlich sind die Ölpreisschocks fast 50 Jahre her, und die Erzeugerpreisanstiege vor der Finanzkrise 2008 waren harmlos im  Vergleich zur heutigen Entwicklung.

Alte Erfolgsmaßstäbe gelten nicht mehr

Entscheider:innen und Teamverantwortliche sollten sich dies bewusst machen und ihre Mitarbeitenden nicht nur an historischen Einsparzielen oder anderen bislang üblichen  Leistungsparametern messen. Sie sind unter den aktuellen Bedingungen schlicht nicht erreichbar, sondern müssen vielmehr adaptiert und durch weitere relevante Messgrößen sinnvoll ergänzt  werden.

Zur neuen Rolle der Einkaufsteams gehört auch, dass sich das Verhältnis zwischen ihnen und ihren Ansprechpartner:innen umgekehrt hat. Waren früher die Einkäufer:innen diejenigen, die  Forderungen stellten, sind es heute in vielen Bereichen die Lieferanten. Daher lohnt es sich, Verhandlungen noch intensiver vorzubereiten und dort, wo sinnvoll, in Partnerschaften zu investieren.

 

Wer beispielsweise die Zusammensetzung eines Produktes und die Kostentreiber darin genau kennt, wird feststellen: Nicht jede Erhöhung ist gerechtfertigt. In solchen Situationen haben  Unternehmen die Chance, Preiserhöhungen zumindest teilweise abzuwehren. Hierin zeigt sich neben der neuen Rolle auch eine neue Sinnhaftigkeit für den Einkauf: Jeder Cent Zusatzkosten, den  Mitarbeitende verhindern können, ist ein Beitrag, um den allgemeinen Preisauftrieb einzudämmen.

Bei objektiv vorhandenen Kostensteigerungen bedeutet Erfolg aktuell, dass es gelingt, eine faire Aufteilung der Zusatzkosten zu vereinbaren. Zur Fairness gegenüber Lieferanten gehört der offene  Dialog. Finden Sie jenseits der Diskussion um Preise und Kosten heraus, vor welchen Herausforderungen Ihre Schlüssellieferanten stehen, welchen Zwängen sie unterliegen. Analysieren Sie  zusammen die vorgelagerte Lieferkette, suchen Sie gemeinsam Verbesserungsmöglichkeiten. Diskutieren Sie Alternativen zu kritischen Vorprodukten – hier können beide Seiten von der  jeweiligen Fachexpertise der anderen profitieren.

 

 

 

Schützen Sie sich vor grauen Nashörnern!

Ganz klar, es ist herausfordernd, die Auswirkungen der Pandemie und des Krieges auf die Lieferketten parallel zu bewältigen – doch mahnen Expertinnen und Experten immer wieder, dass der  Klimawandel die noch größere Aufgabe ist. Wetterphänomene wie Dürren, Starkregen, Hurricanes und Hitzeperioden nehmen weltweit zu. Sie beeinträchtigen nicht nur die Landwirtschaft,  sondern durch Schäden an der Infrastruktur zunehmend auch alle anderen Wirtschaftszweige.

Eine Diversifizierung und – wo möglich – Regionalisierung der Lieferketten sind notwendige Strategien, um sich gegen geopolitische und Klimarisiken abzusichern. Einseitige Abhängigkeiten von  Lieferanten oder Lieferregionen sollten der Vergangenheit angehören. Unternehmen müssen ihr Risikomanagement auf den Prüfstand stellen und sich mit möglichen Szenarien befassen.  Dabei gilt es, Maß zu halten: Die Wissenschaft spricht von „schwarzen Schwänen“, um Ereignisse zu charakterisieren, deren Eintritt unwahrscheinlich ist. Sich gegen alle „schwarzen Schwäne“  abzusichern, ist nicht zielführend. Doch neben den unrealistischen Szenarien gibt es die, die eine größere Eintrittswahrscheinlichkeit haben. Wir nennen sie die „grauen Nashörner im Nebel“.  Diese Risiken sind schemenhaft erkennbar, sie könnten eine echte Gefahr für Ihr Unternehmen werden. Für diese Risiken müssen Sie Gegenmaßnahmen planen. Und genauso wie  Infrarotkameras helfen, um Lebewesen in Nebel oder Dunkelheit zu erkennen, helfen digitale Lösungen, um das Risikomanagement mit Daten zu validieren und daraus die richtigen Erkenntnisse zu ziehen.

 

 

Fazit

Die aktuellen Preissteigerungen sind das Resultat mehrerer sich überlagernder Entwicklungen. Einkäufer:innen sind daher gefordert, Mehrpreisforderungen so weit wie möglich  abzuwehren, um Kostensteigerungen zu minimieren. Dieser neue Fokus muss sich auch in KPI und Incentivierungsmodellen niederschlagen. Um die aktuelle Volatilität und die notwendige Transformation  in eine nachhaltigere Wirtschaftsstruktur zu bewältigen, müssen Lieferketten diversifiziert werden. Unternehmen sollten stabile Netze mit verschiedenen global strategisch  ausgewählten Partnerunternehmen knüpfen. Stabilität entsteht dabei durch transparenten Austausch und vertrauensvolle Kooperation auf Augenhöhe. Auf den Einkauf kommt damit noch  stärker als bislang die Rolle als Schnittstellen- und Risikomanager sowie als Moderator des Wandels zu. Die Digitalisierung liefert heute schon die Mittel dafür, um diese strategischen  Aufgaben bestmöglich zu erfüllen.

Autor:innen

Daniel Weise

ist CEO von INVERTO und Global Topic Leader Procurement bei der Boston Consulting Group. In seinen Büchern befasst er sich mit der Frage, wie Untenehmen ihren Einkauf zum Treiber für Innovation, Nachhaltigkeit und Effizienz weiterentwickeln können.

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Nathalie Krämer

ist Senior Project Manager bei INVERTO in Köln und betreut überwiegend Kunden aus der Industrie. Einer ihrer Schwerpunkte ist die Automobilindustrie, wo sie Projekte zur Kosten- und Prozessoptimierung verantwortet.

nathalie.kraemer@inverto.com