Nachhaltigkeit, Kostenoptimierung, Risikomanagement

Gibt es die BALANCE?

 

 

Unternehmen müssen die Dimensionen Risikomanagement, Wertschöpfung und Nachhaltigkeit in Einklang bringen. Die Geschäftsführung spielt für eine erfolgreiche Umsetzung eine entscheidende Rolle.

Eine falsche Bewegung und Philippe Petit wäre 417 Meter in die Tiefe gefallen. Es ist August 1974 und der schmächtige Franzose balanciert auf einem Drahtseil, illegal gespannt zwischen den noch  nicht fertiggestellten Zwillingstürmen des World Trade Centers inmitten der Skyline von New York.

Schaulustige recken ihre Köpfe in die Höhe, während der Mann komplett ohne Sicherheitsnetz  agiert: Es ist der vermutlich spektakulärste Balanceakt in der jüngeren Menschheitsgeschichte und Petit wurde weltberühmt als der „Mann auf dem Draht“.

Für den modernen Einkauf ist Philippe Petit eine passende Analogie:

 

Unter immer schwierigeren Bedingungen müssen Unternehmen das Gleichgewicht zwischen Kostenoptimierung, Wertschöpfung und Risikomanagement halten. Unsere aktuelle  Risikomanagementstudie zeigt, dass 90 Prozent der Unternehmen in den letzten zwölf Monaten von Störungen in der Lieferkette betroffen waren oder kurzfristig teure Ersatzprodukte beschaffen mussten.

Als wäre das nicht genug, kommt mit dem Thema Nachhaltigkeit eine weitere Dimension hinzu, welcher der Einkauf gerecht werden muss: sowohl im Sinne der ökologischen Bilanz als auch unter  sozialen Gesichtspunkten. Transparenz spielt hierbei für die Zukunftsfähigkeit von Lieferketten eine entscheidende Rolle. Die wachsende Bedeutung dieses Balanceakts spiegelt sich auch in einer CPO-Umfrage wider. Diese zeigt, dass Kostenoptimierung und Risikomanagement mit je 54 Prozent zwar immer noch als wichtigste Themen identifiziert wurden, Nachhaltigkeit mit 51  Prozent aber direkt danach folgt. Um diese sich teils widersprechenden Ziele auszubalancieren, muss der Einkauf eine immens wichtige Transformation durchlaufen.

Wie aber kann das gelingen? 

 

Der Status Quo ist ausbaufähig

Bis heute ist das Kostenbewusstsein in den meisten Unternehmen sehr stark verankert und Einkaufsabteilungen haben viel Energie in die Optimierung investiert. Trotzdem sind sie aktuell von steigenden Rohstoff- und Materialkosten sowie Lieferengpässen betroffen. Denn der Fokus auf kurzfristige Einsparungen geht oft zu Lasten der Stabilität in der Supply Chain und steht einer  partnerschaftlichen, langfristigen Zusammenarbeit mit Lieferanten im Weg.

Die Resilienz von Lieferketten ist durch die Pandemie verstärkt in den Vordergrund gerückt und einige Unternehmen haben bereits Alternativlieferanten in heimischen Märkten als Second Source qualifiziert. Doch das ist nicht in allen Branchen realisierbar. Teilweise müssen, wie bei Stahl, Öl und anderen Rohstoffen, erhebliche Mehrkosten akzeptiert oder in einigen Bereichen sogar  Produktionen ausgesetzt werden.

Ein plakatives Beispiel hierfür ist die Halbleiter-Krise. In der Automobilbranche müssen OEMs derzeit signifikante Mehrkosten für die aktuell raren Halbleiter zahlen, um überhaupt Fahrzeuge produzieren zu können. Im Bereich der Medizintechnik müssen die Entscheider zum Teil priorisieren, welche Instrumente und Maschinen für die Behandlung derzeit kritischer sind und welche  Produktionslinien ausgesetzt werden müssen.

Voraussetzung für Resilienz ist die Kenntnis der unternehmerischen Risiken. Doch bis heute erfassen nur 55 Prozent der Unternehmen ihre Risiken überhaupt systematisch, wie unsere aktuelle  Risikomanagementstudie zeigt. Es ist höchste Zeit, das Thema zu priorisieren und mit Hilfe von Datenanalysetools Transparenz über mögliche Risiken in der eigenen Supply Chain zu schaffen  und alternative Lieferoptionen in Betracht zu ziehen.

 

 

/ Was ist Ihre Priorität in der Einkaufsorganisation?

Kostenoptimierung
36%
56%
Risikominimierung
68%
62%
Einhaltung bestehender Vorschriften
68%
66%
Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele des Unternehmens
63%
25%
Resilienz der Lieferkette
48%

 

Nachhaltigkeit in der Lieferkette

Trotz steigender Relevanz von Nachhaltigkeit ist die Verantwortung dafür selten auf der Führungsebene der Unternehmen verankert, sondern oft erst in der dritten oder vierten Reihe. Ein fehlendes klares Bekenntnis zu Umwelt und Gesellschaft ist allerdings langfristig nicht tragbar. Eine höhere Transparenz in der Lieferkette und Maßnahmen wie die Nutzung von Ökostrom sorgen  zwar kurz- und mittelfristig für zusätzliche Kosten, sind jedoch langfristig ein Wettbewerbsvorteil. Zum einen weil Konzerne und Unternehmen dadurch bereits heute für zukünftige  gesetzliche Vorgaben gerüstet sind. Zum anderen können diese die Attraktivität für Investoren sowie die Chancen auf der Absatzseite und den Bewerbermärkten erhöhen.

 

Gerade im Einkauf und der Lieferkette liegen große Potenziale für mehr Nachhaltigkeit, die Unternehmen bis heute kaum ausschöpfen: angefangen bei der Einsparung von CO2 in der Logistik bis hin zur Veränderung des Produktdesigns, um Rohstoffe zu ersetzen. Braucht es beispielsweise weniger Material oder sind alternative Stoffe umweltfreundlicher, kann der Einkauf in Kooperation  mit der Produktentwicklung und den Lieferanten innovative Lösungen entwickeln und so einen großen Wertbeitrag für das Unternehmen leisten.

 

Führungskräfte sind gefragt

Um den Balanceakt zu schaffen, muss die Geschäftsleitung die erforderlichen Rahmenbedingungen schaffen und einen grundsätzlichen Transformationsprozess anstoßen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist, die Ziele zu definieren, die später in die konkrete Planung aller Bereiche zu überführen sind. Dazu gehört, die neu gelagerten Prioritäten in den Unternehmen auch als  solche hervorzuheben und aktiv zu fördern.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen ist, die Ziele zu definieren, die später in die konkrete Planung aller Bereiche zu überführen sind.

Im Anschluss liegt es in der Verantwortung der Geschäftsleitung, die Priorisierung in den relevanten Abteilungen auch operativ zu verankern und Zielkonflikte zu vermeiden. Wenn für den Einkauf etwa Nachhaltigkeitsziele definiert werden und dadurch die Kosten steigen, muss dafür das entsprechende Budget bereitstehen. Der CPO benötigt einen klaren Rahmen, in dem er künftig  planen und neue Prozesse aufsetzen kann.

Zudem braucht es ein umfassendes Programm mit klarem Zeithorizont, im Bereich Nachhaltigkeit kann das beispielsweise eine CO2-Reduzierung um 60 Prozent bis zum Jahr 2025 sein. Um auch  die Mitarbeiter:innen mitzunehmen, muss diese Vision im Unternehmen proaktiv gelebt werden. Das können ganz einfache Maßnahmen sein, in denen die Führungskräfte als Vorbilder  agieren. Etwa die Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder wo möglich auf das Fahrrad umzusteigen, kann das Bewusstsein für CO2-Reduktionen im Unternehmen schaffen und im Anschluss  breitere Maßnahmen ermöglichen. Ein weiteres Beispiel hierfür wäre die schrittweise Transformation hin zu mehr virtuellen Meetings, um eine neue Meetingkultur zu etablieren.

 

 

Zielerreichung durch unternehmensweite KPIs tracken

Sind die Ziele gesteckt, wird ein funktionsübergreifendes Controlling benötigt. Hierzu gehört vor allem, unternehmensweit Kennzahlen zu definieren und regelmäßig zu tracken. Darüber hinaus  muss die Führungsetage die richtigen Anreize setzen, auch über eine Incentivierung der Mitarbeitenden, die sich komplett auf die definierten Ziele und deren Priorisierung stützt.

So sollte auch die Zielerreichung der Nachhaltigkeitsagenda regelmäßig überprüft werden. Dazu gehört, dass jedes Produkt nicht nur ein „Price Tag“, sondern auch ein „CO2 Tag“ erhält. Auf diese  Weise können auch nicht produktbezogene Bereiche wie die eigene Flotte oder Geschäftsreisen entsprechend betrachtet werden. Initiativen wie die Carbon Pricing Leadership versuchen hierfür  praktische Lösungen zu finden.

Der CSO oder die verantwortliche Person in der Geschäftsführung sollte sich ferner für eine klare Kommunikation auch gegenüber Kund:innen einsetzen und bei der Zusammenarbeit mit Lieferanten klare Regeln setzen. Gibt es bisher die allgemeinen Geschäftsbedingungen, können diese künftig durch allgemeine Nachhaltigkeitsbedingungen ergänzt werden. Als Schnittstelle zu  den Lieferanten fällt dem Einkauf hier die Aufgabe zu, dies gegenüber den Lieferanten zu kommunizieren und gemeinsam klare Regeln für die Zusammenarbeit und Prozesse zu definieren.

 

 

 

 

Wie Führungskräfte unterstützen können

Nur wenn unternehmensübergreifende KPIs definiert sowie die Rahmenbedingungen und ein klares Mandat für den Einkauf geschaffen werden, kann dieser erfolgreich arbeiten und die Transformation meistern.

 

  • 1. Transparenz schaffen & Zielkonflikte erkennen
  • 2. Ziele neu formulieren & priorisieren
  • 3. Zielsystem auf die Abteilungen runterbrechen
  • 4. Control Tower aufsetzen & KPIs definieren
  • 5. Change Management & Incentivierung

 

Den Anforderungen gerecht werden

All diese Punkte zeigen eindrucksvoll die wichtige Rolle der Führungsebene beim Auflösen der Zielkonflikte. Nur wenn diese unternehmensübergreifende KPIs definiert sowie die Rahmenbedingungen und ein klares Mandat für den Einkauf schafft, kann dieser erfolgreich arbeiten und die Transformation meistern.

Schaut man nun auf den Status quo in den Unternehmen, gibt es durchaus noch Nachholbedarf. Zwar haben viele Unternehmen mittlerweile verstanden, dass ein Risikomonitoring bzw.  Risikomanagement ein wichtiger und auch zentraler Aufgabenbereich des Einkaufs ist. Doch müssen Unternehmen die Transformation des Einkaufs hin zu einem Wert- und Innovationstreiber  stärker fokussieren.

Das klassische Warengruppenmanagement wird in Zukunft immer stärker digitalisiert. Die zunehmende Automatisierung erlaubt es dem Einkauf, weniger im operativen Tagesgeschäft zu arbeiten und strategischer agieren zu können, zum Beispiel in crossfunktionalen Entwicklungsprojekten.

 

 

Der Einkauf kann hier seine Kenntnis der Lieferantenmärkte einbringen und frühzeitig auf mögliche Mehrkosten und Risikopotenziale hinweisen.

Die Digitalisierung hilft nicht nur dabei, die Transformation zu beschleunigen, moderne Tools ermöglichen auch eine erhöhte Transparenz und Messbarkeit über die gesamte Lieferkette hinweg. Der Einsatz von Analysetools beginnt bereits bei den Rohstoffen. Um hier Transparenz zu schaffen, braucht es Informationen darüber, welche Rohstoffe zu welchen Anteilen im Endprodukt  enthalten sind. Nur wenn der Einkauf weiß, wie hoch der Rohstoffanteil ist, kann er in Preisverhandlungen mit Lieferanten punkten und vorteilhafte Indexklauseln vereinbaren.

Das in den Unternehmen im Durchschnitt bisher nicht mal 50 Prozent der Supply Chain digitalisiert ist, verschwendet Ressourcen, die Unternehmen dringend brauchen. Entsprechend sinnvoll ist es, einen Control Tower zu etablieren, der schnell und automatisiert einen Überblick über wichtige Lieferanten, Rohstoffe, Indexpreisentwicklungen und Insolvenzrisiken bietet. Läuft das an  einem Punkt zusammen, kann der Einkauf strategische Handlungsoptionen definieren für den Fall, dass ein Lieferant ausfällt: Welche Alternativpartner gibt es? Welche Dual Sourcing Strategie  muss aufgebaut werden?

Diese Transparenzoffensive sollte im besten Fall so weit gehen, dass Unternehmen und Lieferanten auch untereinander Daten austauschen, angefangen bei aktuellen Lagerbeständen bis hin zum  Ausstoß von CO2. Weiß ein Unternehmer beispielsweise, dass die Magnesiumvorräte im Lager eines Lieferanten knapp werden, kann er frühzeitig die Versorgung sicherstellen oder den  Lieferanten bei der Suche nach neuen Quellen sogar unterstützen.

Transparenz ist der mit Abstand wichtigste Faktor für die Transformation. Denn sie erlaubt es, die Ziele auf Einkaufsebene erneut zu priorisieren. Konkrete Ziele auf der Wertschöpfungsebene  sind beispielsweise die Verbesserung der Performance von Lieferanten oder auch die Einsparung von Kosten durch ein besseres Produktdesign. Um die Lieferkette stabiler und nachhaltiger zu  machen, kann es sinnvoll sein, Nearshoring-Optionen aufzubauen.

 

Da diese Ziele aber oft diametral gegeneinanderstehen, muss der Einkauf die Balance abhängig von seinen Prioritäten finden und diese immer wieder kalibrieren, da sie sich aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Weltlage immer wieder verschieben können. Beispiel Automobilindustrie: Dort ist es für Unternehmen enorm wichtig, an Halbleiter zu kommen, und nun ist  die Lieferkette aufgrund der Ukraine-Krise erneut betroffen. Resilienz hat in der aktuellen Situation eine übergeordnete Bedeutung gegenüber der Kostenoptimierung beziehungsweise Wertschöpfung.

Der Frage, wie ein Trade-off ausbalanciert werden kann, müssen sich Unternehmen insbesondere bei langfristigen, strategischen Entscheidungen stellen. Die Suche nach alternativen  Rohstoffen spielt dabei ebenso eine Rolle wie die strategische Zusammenarbeit mit Lieferanten.

Auch in Bezug auf Nachhaltigkeit muss der Einkauf Trade-offs managen. So gibt es in vielen Unternehmen derzeit Initiativen zur Verlagerung von Lieferketten und zur Regionalisierung. Denn auch wenn eine Produktion in Europa oft mit höheren Kosten einhergeht, kann sie zu einer erheblichen Minimierung von Lieferausfällen beitragen. Durch kürzere Wege, den Einsatz anderer  Transportmittel sowie höherer Umwelt- und Sozialstandards in den Heimmärkten ist die Rückverlagerung auch aus Nachhaltigkeitsgesichtspunkten sinnvoll.

Da Ziele oft diametral gegeneinanderstehen, muss der Einkauf die Balance abhängig von seinen Prioritäten finden und diese immer wieder kalibrieren.

 

FAZIT: So klappt die Transformation

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Balance zu finden, ist eine unternehmensweite Aufgabe, die nur dann gelingen kann, wenn die Geschäftsleitung den entsprechenden Rahmen definiert. Für die anschließende Verankerung in der Organisation und für erste Erfolgserlebnisse bieten sich abteilungsübergreifende Leuchtturmprojekte an.

Der Einkauf kann hierbei als Treiber in crossfunktionalen Teams einen erheblichen Beitrag zur Resilienz des Unternehmens leisten. Um die Komplexität zu meistern und Antworten auf die  relevanten Fragen in der Supply Chain zu finden, muss sich dieser aber entscheidend weiterentwickeln. Mit den entsprechenden Tools und Fähigkeiten sowie in Zusammenarbeit mit den  Lieferanten kann ein komplettes „Supply Chain Redesign“ gelingen, das die notwendige Agilität im Zusammenspiel zwischen Resilienz, Nachhaltigkeit und einen kontinuierlichen Wertbeitrag bereithält.

Authors

Paul Zahn

ist Managing Director bei INVERTO in Chicago. Mit seiner breiten Erfahrung im strategischen Einkauf betreut er überwiegend Kunden aus den Bereichen Automotive, Industriegüter und dem Maschinen- und Anlagenbau. Zudem leitet er das Competence Center Procurement Management.

contact@inverto.com

David Ring

ist Managing Director am Kölner INVERTO-Standort und unterstützt vor allem Kunden aus dem Health-Sektor. Er verfügt über umfangreiche Erfahrung in Transformationsprojekten und verantwortet diesen Bereich im Competence Center Procurement Management.

David.Ring@inverto.com

Eva Hormel

ist Senior Consultant bei INVERTO in München und unterstützt branchenübergreifend bei Einkaufsoptimierungsprojekten. Neben Ausschreibungen und Logistikoptimierungen hilft sie einem unserer Kunden derzeit im Risikomanagement bei der Beschaffung von Halbleitern.

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