einstellen, drohen der Industrie Verwerfungen. Viele Arbeitsplätze könnten verloren gehen.
Am Mittag ruderte der Kreml zurück. Das russische Regime verlangt nun doch nicht bereits ab diesem Donnerstag Rubel-Zahlungen für GasLieferungen. Zuvor hatten die G7-Staaten und die EU auf die vertraglich vereinbarten Zahlungen in US-Dollar oder Euro beharrt. Russlands Präsident Wladimir Putin will jedoch heute eine spätere Einführung dieser Regelung mit Vertretern der Zentralbank und des Staatskonzerns Gazprom besprechen.
Wegen des drohenden Lieferstopps für russisches Gas rief Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Mittwoch die erste von drei Stufen des Notfallplans Gas aus (https://www.tagesspiegel.de/politik/habeck-ruft-fruehwarnstufe-ausdas-bedeutet-der-notfallplan-gas/28212264.html). Durch diesen Schritt wird im Wirtschaftsministerium nun ein Krisenstab eingerichtet von Mitarbeitern des Ministeriums, der Bundesnetzagentur, Vertretern der Energiebranche sowie der Bundesländer, die täglich das Marktgeschehen beobachten. Gaslieferanten und Netzbetreiber sind angehalten, mehr Gas zu beschaffen, die Speicher bestmöglich zu füllen und Gasflüsse zu optimieren.
Chemiebranche warnt vor „industriellem Flächenbrand“
Fielen die Gaslieferungen aus Russland kurzfristig aus, wären die Folgen für die deutsche Industrie dramatisch. Denn bei Engpässen würde den Produktionsbetrieben als erstes der Gashahn abgedreht. Besonders die energieintensive Grundstoffproduktion – etwa die Chemie-, Stahl- und Glasindustrie – ist auf kontinuierliche Gaslieferungen angewiesen
(https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/energiepreise-belastenindustrie-rund-um-die-uhr-unter-volldampf/28151696.html). Ihre Produkte stehen am Anfang fast aller industriellen
Wertschöpfungsketten. Das gilt auch für den wichtigsten Industriezweig: die Automobilbranche.
Die chemische Industrie warnte am Mittwoch bereits vor einem „industriellen Flächenbrand“ für die Bundesrepublik. „Wenn Chemieanlagen einmal heruntergefahren sind, dann stehen sie still für
Wochen und Monate“, sagte der Präsident des Branchenverbandes VCI, Christian Kullmann. In einem Dominoeffekt müssten kurz darauf auch andere Branchen wie die Autoindustrie oder der Maschinenbau ihre Bänder stilllegen, erklärte der Chef des Spezialchemiekonzerns Evonik.
Autoindustrie zahlt höhere Preise für Vorprodukte
Die deutschen Autobauer spüren die dramatisch gestiegenen Gaspreise bereits heute. Etliche Chemie- und Kunststoffhersteller haben die Preise erhöht – etwa für Grundstoffe, aus denen Materialien für die Fahrzeuginnenräume hergestellt werden. Bei einem Lieferstopp wäre unter anderem die Produktion von Fensterscheiben, Glasdächern, Armaturendisplays oder Beschichtungen gefährdet. Gas wird auch in den Lackierereien bei der Trocknung eingesetzt oder bei der Härtung von Karosserieteilen.
„Wir können nur auf Sicht fahren“, hieß es am Mittwoch bei einem Autobauer. Aktuell gebe es keine Einschränkungen, aber im Ernstfall müsse man mit dem Schlimmsten rechnen. „Wir können kein Gas
bevorraten oder einfach auf Flüssiggas umstellen.“ Das gilt auch für die großen Zulieferer.
„Gas ist vor allem relevant für energieintensive Lieferanten wie etwa Produzenten von Gussmetallen, Stahl oder Strangpressprofilen aus Aluminium“, sagte Paul Zahn, Experte für die Automobilbranche beim Lieferkettenberater Inverto. Die Tier-One-Lieferanten deckten Ihre Energiebedarfe schätzungsweise zu drei Vierteln über Strom und zu einem Viertel über Gas. „Natürlich kann auch hinter Strom Gas als Primärenergieträger stehen“, sagte Zahn.
Gas ist Energiequelle für Werke
Auf eine ausreichende Versorgung mit Gas sind die Autobauer nicht nur in der Lieferkette für Vorprodukte angewiesen. Auch ihre Energieversorgung haben die Hersteller – mit dem Ziel der CO2-
Reduzierung –meist auf Gas umgestellt oder sie sind noch dabei.
Die beiden VW-Kraftwerke in Wolfsburg zum Beispiel werden bis Ende des Jahres für 400 Millionen Euro von Kohle auf Gas umgestellt. Sie versorgen nicht nur die Autoproduktion, sondern sind auch
Hauptlieferanten für die Fernwärme im Netz des Wolfsburger Versorgers LSW. VW hat mit der VW Kraftwerk GmbH eine eigene Tochtergesellschaft, die mit mehr als 400 Mitarbeitern ausschließlich
als Energiedienstleister für den Konzern tätig ist.
Mercedes-Benz deckt ein Viertel seines Strombedarfs mit eigenen GasKWK Anlagen (Kraft-Wärme-Kopplung), drei Viertel des Stroms werden eingekauft und bestehen ab dem laufenden Jahr zu 100 Prozent aus regenerativen Quellen. Sein größtes Werk in Sindelfingen mit 25.000 Beschäftigten versorgt Mercedes mit einem eigenen KWK-Heizkraftwerk – zu drei Vierteln mit Strom und vollständig mit Wärme.
„Wir beobachten die Situation genau und stehen im engen Austausch mit der Bundesregierung“, sagte eine Mercedes-Sprecherin Background. „Natürlich spielt die Gasversorgung auch in unserer
Industrie eine Rolle – vom Beheizen von Produktionshallen bis hin zu Fertigungsprozessen.“
Nach Angaben des Branchenverbands VDA entfallen auf die Autoindustrie rund 4,5 Prozent (35.164 Terajoule) des gesamten industriellen Gasverbrauchs. „Von der im Fahrzeugbau nachgefragten
Gasmenge können bis zum Herbst und Winter dieses Jahres nur rund neun Prozent durch andere Energieträger ersetzt werden, die Betroffenheit für die Produktion wäre daher enorm“, sagte ein VDASprecher Background.
Im Fahrzeugbau wird laut Verband jeweils rund die Hälfte des Gases für Prozesswärme sowie Raumwärme benötigt. Das Substitutionspotenzial sei hier mit drei beziehungsweise fünf Prozent sehr gering. Deutlich leichter (zu 75 bis 85 Prozent) ließen sich hingegen die – allerdings geringen – Gasanteile für mechanische Energie und Warmwasser ersetzen.
Ab Herbst wird die Lage brenzlig
Das nötige Gas beziehen die Automobilbauer aus dem deutschen Verbundnetz. Auf einen Stopp russischer Gaslieferungen ist es kaum vorbereitet. Mehr als die Hälfte seines Bedarfs deckte Deutschland zu Kriegsbeginn aus russischen Gasfeldern. Inzwischen wurde der Anteil bereits auf 45 Prozent reduziert. Aktuell sind die Gasspeicher in Deutschland zu 26,5 Prozent gefüllt und verzeichnen einen täglichen Nettozufluss von 0,21 Prozent. Vollständig gefüllt können sie die Versorgung etwa zwei Wintermonate decken.
VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup erwartet deshalb bei einem vollständigen Lieferstopp spätestens im Herbst „massive negative Auswirkungen“ für die Industrieproduktion in Deutschland. Deutlicher wurde noch VCI-Präsident Kullmann: „Wenn einige Ökonomen jetzt so tun, als ließe sich ohne Gas eine echte, tiefe Rezession vermeiden, sind das akademische Träumereien.“ Auch ein dauerhafter Verlust Hunderttausender Arbeitsplätze wird bei einem Abbruch der Industrieproduktion befürchtet.
Russland droht weiter
Die „Wirtschaftsweisen“ der Bundesregierung senkten am Mittwoch angesichts des Kriegs in der Ukraine und der deutschen Abhängigkeit von russischen Energielieferungen bereits ihre Konjunkturprognose. Für das laufende Jahr erwarten die vier Ökonomen bei 6,1 Prozent Inflation nun nur noch 1,8 Prozent Wachstum und bei auslaufenden Gaslieferungen eine Rezession. Die Mitglieder des Sachverständigenrats riefen zum Energiesparen auf und schlugen unter anderem Fahrgemeinschaften und ein Tempolimit vor.
Das russische Regime drohte am Mittwoch (https://www.tagesspiegel.de/politik/ein-lieferstopp-trifft-putin-haerterals-den-westen-das-hasenfussspiel-ums-gas-wer-zuckt-als ersterzurueck/28213376.html) derweil damit, für weitere Rohstofflieferungen nur noch Rubel zu akzeptieren. Parlamentschef Wjatscheslaw Wolodin sagte, im Export sollten Öl, Metalle und Kohle sowie Waren wie Dünger und Getreide ebenfalls in der russischen Währung bezahlt werden. Paul Zahn von Inverto warnte: „Der Gasnotstand bezieht sich nicht nur auf die Belieferung mit Erdgas.“ Verschiedene Edelgase würden auch unter anderem bei der Herstellung von Halbleitern verwendet. „Neon, Xenon, Krypton und weitere kommen hauptsächlich aus der Ukraine und aus Russland. Hier droht der nächste Engpass.“ mit Henrik Mortsiefer.
Quelle: Tagesspiegel Background, 31.3.2022
Autor: Caspar Schwietering

