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Professionelles Risikomanagement

Lange Zeit haben sich Unternehmen kaum um ihr Risikomanagement gekümmert. Gerade in der Coronakrise hatten einige mit den Konsequenzen zu kämpfen – welche Lehren Unternehmen daraus jetzt ziehen sollten.

Am Ende war es ein kleiner gelber Bagger, der die 400 Meter lange Ever Given wieder freischaufelte. Fast schon wie ein Spielzeug wirkte er neben dem gigantischen Tanker. Sechs Tage lang verstopfte die Ever Given Ende März dieses Jahres den Suezkanal und damit die wichtigste Seehandelsverbindung zwischen Asien und Europa. Sie hatte Güter im Wert von rund 2,9 Milliarden Euro geladen. Über 450 Schiffe sollen auf ihre Weiterfahrt gewartet haben.

Ägypten forderte 900 Millionen Euro Schadensersatz, für entgangene Kanalgebühren sowie für Unterhaltskosten und für die Arbeiten, um die Ever Given freizuschleppen. Viele Unternehmen warteten monatelang auf ihre Güter.

Kaum ein Unternehmen war auf dieses Szenario vorbereitet. Der Fall zeigt sehr deutlich, wie anfällig die weit verzweigten globalen Lieferketten sind. Mit einem guten Risikomanagement lassen sich Unfälle natürlich nicht vermeiden, es hilft aber dabei, Risiken frühzeitig zu erkennen und mit Alternativplänen gegenzusteuern.

Ein effektiv aufgestelltes Risikomanagement ist goldwert

Das Wichtigste in so einem Moment ist, schnell handeln zu können. Eine proaktive Risikomanagementabteilung hätte in dem Moment genau sagen können, welche Güter betroffen sind, wie schlimm die Verzögerung für das Unternehmen ist, welche Waren noch auf Vorrat sind, welche alternativen Lieferrouten die Firma nun nutzen sollte und welche Alternativlieferanten einspringen können.

Risikomanagement war lange Zeit ein sehr abstrakter Begriff, um den sich Unternehmen kaum kümmerten. Es bedeutet nicht, Risiken gänzlich zu vermeiden, sie gehören zum unternehmerischen Handeln dazu. Es bedeutet, Risiken rechtzeitig zu erkennen und schnell reagieren zu können. Seit dem vergangenen Jahr ist der Begriff für viele Unternehmen deutlich greifbarer geworden. Die aktuelle Risikomanagementstudie von INVERTO zeigt etwa, dass 42 Prozent der befragten Teilnehmer:innen in den zurückliegenden sechs Monaten von unerwarteten Lieferantenausfällen betroffen waren.

 

Nur ein Beispiel: Im Falle eines Chemieproduzenten führte die pandemiebedingte Schließung eines norditalienischen Zulieferers zu Versorgungsengpässen und in der Folge zu einer mehrtägigen Unterbrechung der Produktion. Über andere Lieferanten musste das Unternehmen Alternativprodukte beziehen, bis der Hauptlieferant wieder lieferfähig war. Der Chemieproduzent passte daraufhin seine Lagerhaltungsparameter an, rief eine Taskforce ins Leben, die vergleichbare Risiken nun kontinuierlich überwacht und Notfallpläne für wichtige Zulieferprodukte erstellt.

Allein ist das Chemieunternehmen mit seinen Problemen nicht, auch in anderen Bereichen ist die Verunsicherung groß. So nehmen zum Beispiel die meisten Firmen, die derzeit auf Holz angewiesen sind, horrende Preise in Kauf, um ihre Versorgung sicherzustellen. Im Bereich Stahl gibt es zurzeit keine langfristigen Lieferverträge, die Preise schwanken stark. Und bei Lieferungen per Flugzeug oder Schiff wurden sogar bestehende Preisvereinbarungen widerrufen. Unternehmen haben keine Wahl und müssen die neuen Konditionen akzeptieren.

Das Bewusstsein, wie wichtig ein gutes Risikomanagement sein kann, ist aktuell wohl so hoch wie noch nie. 61 Prozent der befragten Teilnehmer:innen gaben in der INVERTO Risikomanagmentstudie an, ihre Risiken systematisch zu erfassen. Das sind 23 Prozent mehr als im Vorjahr. Elf Prozent machten keine Angabe, 27 Prozent erfassen ihre Risiken, wenn überhaupt, nur unregelmäßig. Dennoch besteht für fast jedes Unternehmen Handlungsbedarf: Systematisch ist bei weitem nicht gleich systematisch und gerade für die 27 Prozent, die ihre Risiken noch gar nicht erfassen, wird es höchste Zeit, das Thema in die Hand zu nehmen.

 

Das Bewusstsein, wie wichtig ein gutes Risikomanagement sein kann, ist aktuell wohl so hoch wie noch nie.

Der Risikomanagementprozess:

Risikoidentifikation

Identifikation aller potenzieller Ereignisse, die nicht planmäßig laufen könnten und einen bedeutsamen Einfluss auf Preisstellung, Versorgungssicherheit oder Qualität haben

Risikobewertung

Bewertung der Eintrittswahrscheinlichkeiten von Ereignissen und Abschätzung möglicher Auswirkungen auf die Unternehmensperformance. Proben für den Ernstfall

Risikomonitoring

Alle Risiken unter Beobachtung halten und angemessene Maßnahmen treffen, wenn eine Zielabweichung droht. Einrichten eines Risk-Control-Towers, um schnell agieren zu können

Risikosteuerung

Anwendung von Strategien, um Risiken beherrschbar zu machen: Risikovermeidung, Risikoeingehung, Risikoverteilung, Risikoübertragung

Vier Schritte zum optimalen Risikomanagement

Ein effizienter Risikomanagementprozess bedeutet, dem eigenen Risikoverhalten den Spiegel vorzuhalten. Unternehmen müssen selbst ehrlich einschätzen, wo sie stehen. Letzten Endes geht es um vier Schritte: Im ersten geht es um die Risikoidentifikation, im zweiten Schritt um die Risikobewertung, im dritten um die Risikosteuerung und im letzten Schritt um das Risikomonitoring. All diese Schritte wiederholen sich regelmäßig, denn Risikomanagement ist ein kontinuierlicher Prozess, in dem die Risikoidentifikation und -bewertung regelmäßig aktualisiert werden müssen.

Beim Management von Supply Chain Risiken muss der Einkauf eng in den Prozess eingebunden werden. Denn er ist es, der mit Lieferanten im direkten Austausch steht und deshalb Risiken in der Lieferkette am ehesten identifizieren kann. Zu einem effizienten Risikomanagement gehört aber auch, die eigenen Abteilungen miteinander zu vernetzen: Finance, Legal, Entwicklung und Logistik können alle beim Einschätzen der Risiken helfen. Die Produktion kann vermitteln, wie wichtig einzelne Lieferanten für die Versorgungssicherheit sind. Der Einkauf hat bei einem effizienten Risikomanagement damit auch die Aufgabe, abteilungsübergreifend zu arbeiten.

Reagieren, bevor die Ampel auf rot springt

Potenzielle Insolvenzen von Lieferanten früh zu erkennen, kann Unternehmen viel Geld und Stress ersparen. Das vorherzusehen, ist möglich, wenn Firmen früh genug ansetzen und Maßnahmen proaktiv ergreifen, wie ein Beispiel aus dem Maschinenbau zeigt.

 

Zum Beitrag

Es ist absolut fahrlässig, keine professionell aufgestellte Risikobewertung für Lieferanten zu haben. Wer frühzeitig mit der Identifizierung möglicher Probleme beginnt, kann sich vor Überraschungen absichern.

Risiken so detailliert es geht identifizieren

Um überhaupt herauszufinden, welchen Risiken die eigene Lieferkette ausgesetzt ist, müssen Unternehmen erstmal einen Überblick gewinnen. Dazu gehört, dass sie zu Beginn ihre Warengruppen und Lieferanten analysieren. So können beispielsweise Warengruppen mit hohem Rohstoffanteil sowie einer erwarteten Verknappung eines bestimmten Rohstoffes ein Risikopotenzial beinhalten, das der Einkauf unter Beobachtung halten muss.

Es gibt fünf Risikotypen, nach denen die Verantwortlichen im Einkauf unterscheiden sollten. Dazu gehören Versorgungsrisiken, Lieferantenausfallrisiken, Qualitätsrisiken, Preisrisiken sowie Compliance- und Nachhaltigkeitsrisiken. Versorgungsrisiken treten auf, wenn es zu Störungen oder Verzögerungen der Lieferungen kommt, beispielsweise weil Vorprodukte von Sublieferanten nicht verfügbar sind oder Störungen in der Logistikkette auftreten. Zu den Lieferantenausfallrisiken gehört die Insolvenz eines Lieferanten oder wenn ihm in seinem Land rechtliche oder politische Konsequenzen drohen. Qualitätsrisiken beziehen sich auf schwankende Produkt- oder Servicequalitäten.

Preisrisiken können aufgrund erhöhter Entgeltforderungen, einem sich ändernden Währungskurs oder wegen in die Höhe schnellender Rohstoffpreise entstehen. Compliance- und Nachhaltigkeitsrisiken entstehen, wenn ein Lieferant gegen Gesetze verstößt, ökologische Auflagen missachtet oder soziale Standards nicht einhält. Durch das bald in Kraft tretende Lieferkettengesetz verstärken sich gerade diese Risiken für Unternehmen zusätzlich. Auch die Notwendigkeit zur Reduktion von CO2-Emissionen in der Lieferkette, sogenannter Scope 3 Emissionen, stellt für viele Unternehmen ein zunehmend wichtiges Nachhaltigkeitsrisiko dar.

Bei der Herstellung von Transparenz liegt die größte Herausforderung, die letztlich über den Erfolg des Risikomanagements entscheidet. Daher stehen am Anfang strategische Überlegungen im Fokus. Der Einkauf muss evaluieren, woher und wie er die erforderlichen Daten beschaffen kann. Und wenn einmal Transparenz geschaffen wurde, muss ein kontinuierlicher Prozess etabliert werden, um diesen Zustand auch dauerhaft zu erhalten.

Der enge Austausch mit den Lieferanten ist bei diesem Prozessschritt unabdingbar. Nur durch regelmäßige Gespräche, Selbstauskünfte und Audits bei den Lieferanten vor Ort können Einkäufer:innen einen wirklichen Eindruck von der individuellen Situation des Lieferanten bekommen. Außerdem müssen Unternehmen Informationen wie Geschäftszahlen, Zertifikate etwa zur Einhaltung von Umweltstandards, Pressemitteilungen oder Newsmeldungen analysieren. In Einzelfällen kann es auch notwendig sein, sich ausgewählte Produktionswerke seines Lieferanten bei einem Vor-Ort-Audit anzuschauen. Wann welches Vorgehen sinnvoll ist, hängt auch von der Beziehung zum Lieferanten ab.

 

Die meisten Firmen fürchten um ihre Versorgungssicherheit

Wie stark die einzelnen Risikogruppen ins Gewicht fallen, ist von Unternehmen zu Unternehmen unterschiedlich. Die INVERTO Risikomanagementstudie hat gezeigt, dass die meisten Teilnehmer:innen sich am ehesten mit Versorgungsrisiken beschäftigen. 79 Prozent gaben an, dass dieses Risiko für sie derzeit die höchste Priorität hat. In der Umfrage des vergangenen Jahres waren es noch 57 Prozent. Auf Platz 2 kommen die Lieferantenausfallrisiken mit 56 Prozent (im Vorjahr: 57 Prozent). Auf dem letzten Platz liegen die Compliance-Risiken. Lediglich acht Prozent sehen sie als die höchste Priorität an (im Vorjahr waren es noch 25 Prozent).

Doch ist das gerechtfertigt? Anhand quantitativer Daten wie Einkaufsvolumen, Rohmaterialanteile oder Umsatzzahlen lässt sich das Risiko gut bestimmen. Kann ein Unternehmen etwa steigende Rohmaterialkosten nicht an seine Kunden weitergeben, so stellen sie ein größeres Risiko dar. Wer für ein bestimmtes Produkt nur auf einen einzigen Lieferanten setzt, der fährt ein höheres Lieferantenausfallrisiko oder muss Preissteigerungen hinnehmen.

Um die Wahrscheinlichkeit des Risikoeintritts zu bewerten, sollten Unternehmen eine einheitliche Bewertungslogik, etwa ein Scoring- oder Ranking-Verfahren einführen. So lassen sich die verschiedenen Risiken auch in Relation zueinander setzen. Oft bietet sich ein Punktesystem von null bis 100 an, das sich aus verschiedenen quantitativen Kriterien, wie etwa regelmäßige messbare Lieferverzögerungen oder Preisschwankungen, zusammensetzt. Qualitative Kriterien lassen sich ergänzen. Dazu kann zum Beispiel die Innovationskraft des Lieferanten zählen. Um diese einzuschätzen, sollte der Einkauf Rücksprache mit der entsprechenden Fachabteilung halten.

Künftig wird auch Big Data wichtiger. Damit lassen sich zum Beispiel Lieferantendaten, unternehmensindividuelle Bedarfsanalysen und makroökonomische Entwicklungen vergleichen und zu einem Score zusammenführen. Der Einkauf wird damit zukünftig eine immer breitere Entscheidungsbasis zur Verfügung haben – muss sich gleichzeitig aber auch im Bereich Datenmanagement spezialisieren und entsprechende Tools zur Verfügung gestellt bekommen.

Zusammenführen verschiedener Datenquellen schafft Transparenz
(am Beispiel Insolvenzrisiko)

„Mit welchen Maßnahmen begegnen Sie Beschaffungsrisiken?“ (Mehrfachnennung möglich)

Standard Regelmäßige Lieferantenbewertung
81%
73%
Umsetzung von Dual Sourcing Strategien
81%
71%
Abschluss langfristiger Rahmenverträge
72%
78%
Anspruchsvolle Maßnahmen Vordefinierte Eventual- bzw. Notfallpläne
34%
22%
Einsatz eines Risikofrüherkennungssystems
34%
37%
Hedging Strategien
23%
2%
Spend Analysen und Prognosen zur Trendidentifikation
17%
0%
Unterstützungsprogramme für Lieferanten
11%
24%
Lieferantenmonitoring (Big Data, KI)
8%
16%

 

 

Bei der Risikosteuerung trennt sich die Spreu vom Weizen

Ein effektives Risikomanagement erfordert konkrete Maßnahmenpläne. Wie Unternehmen mit einem Risiko umgehen sollten, hängt vom Einzelfall ab. Es gilt zwischen einem vertretbarem Aufwand und der Eintrittswahrscheinlichkeit des Risikos abzuwägen. Eine Marktanalyse ist zum Beispiel ein Mittel, um Alternativlieferanten zu identifizieren. Auch regelmäßige Freiprüfungen von Alternativmaterialien minimieren die Risiken, da im Ernstfall alternative Materialien zum Einsatz kommen können.

Die INVERTO Risikomanagementstudie zeigt, dass Unternehmen in ihrer Risikosteuerung bisher vor allem auf die Standard-Tools setzen. Eine regelmäßige Lieferantenbewertung führen 81 Prozent durch, genauso viele setzen Dual Sourcing Strategien um. Langfristige Rahmenverträge zur Preisstabilität nutzen 72 Prozent, Sicherheitslager, um auf Engpässe zu reagieren, dagegen nur 43 Prozent.

Auf die anspruchsvolleren Maßnahmen setzen noch deutlich weniger. Gerade einmal 34 Prozent haben vordefinierte Notfallpläne parat, genauso viele nutzen ein Risikofrühwarnsystem. Elf Prozent haben Unterstützungsprogramme für Lieferanten, die sich vor allem in Krisen wie der Coronapandemie auszeichnen und erst acht Prozent setzen auf Big Data Lösungen, um ihre Lieferanten zu überwachen.

Ein effektives Risikomanagement erfordert konkrete Maßnahmenpläne.

Auch Unternehmen, die darauf bisher verzichtet haben, werden spätestens mit dem Inkrafttreten des Lieferkettengesetzes um ein gutes Monitoring nicht mehr herumkommen.

Im Risikomonitoring läuft alles zusammen

Wer seine Risiken effizient überwacht, kann schnell reagieren – und bestenfalls schon frühzeitig agieren. Auch Unternehmen, die darauf bisher verzichtet haben, werden spätestens mit dem Inkrafttreten des Lieferkettengesetzes um ein gutes Monitoring nicht mehr herumkommen. Das funktioniert nur, wenn sich der Einkauf regelmäßig mit den Lieferanten austauscht und so ständig die Risikostufen neu einordnen und Notfallpläne ausarbeiten kann.

Im Risikomonitoring laufen alle Fäden zusammen. Ergebnisse muss der Einkauf auch an die entsprechenden Fachabteilungen wie etwa dem Controlling oder der Qualitätssicherung melden. Hier ist von entscheidender Bedeutung, Risikomanagement als kontinuierlichen Prozess anzusehen. Die Ergebnisse dürfen niemals einfach so in Schubladen landen.

Unternehmen sollten dazu einen IT-gestützten Risk-Control-Tower einrichten, der alle relevanten Kennzahlen und Informationen bündelt und sie veranschaulicht. Wichtig ist, dass cross-funktional alle relevanten Fachbereiche sowie die Geschäftsleitung hieran angebunden werden, damit alle Beteiligten jederzeit über die aktuellen Informationen verfügen.

Wer ein solches System dauerhaft einführt, kann eine langfristig stabilere und resilientere Lieferkette aufbauen und seine Risiken minimieren. Ein solches Risikomonitoring intensiviert auch die Beziehungen zu den Lieferanten, da beide Seiten die Bedürfnisse des anderen besser verstehen können.

Autoren

Philipp Mall

ist Geschäftsführer im Kölner Büro von INVERTO und verantwortlich für unsere jährliche Risikomanagementstudie. Er berät überwiegend Kunden aus dem Maschinen- und Anlagenbau sowie der Prozessindustrie.

contact@inverto.com

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