Handelsblatt - Keine Entwarnung: Was die sinkenden Rohstoffpreise für die Industrie bedeuten

Keine Entwarnung: Was die sinkenden Rohstoffpreise für die Industrie bedeuten

Die Beschaffungskosten sind zuletzt gesunken. Doch das kann sich schnell ändern. Wo die Unsicherheit besonders hoch ist – und worauf sich Firmen einstellen müssen.

Hohe Preise für Energie, Kunststoffe und Metalle bleiben ein bedeutendes Kostenrisiko für die deutsche Industrie. Davon zeigen sich Branchenexperten im Gespräch mit dem Handelsblatt überzeugt – obwohl die Rohstoffpreise seit ihrer Hausse im vergangenen März auf breiter Basis nachgegeben haben.

So sagt Lars-Peter Häfele, Geschäftsführer beim Einkaufsberater Inverto: „Wir beobachten übergreifend eine gewisse Normalisierung bei den Rohstoffpreisen – allerdings auf hohem Niveau.“ Für Entwarnung sei es noch zu früh: „Wenn zu den vielen Krisen eine weitere dazukommt, kann es ganz schnell wieder zu Preisspitzen bei einzelnen Rohstoffen kommen.“

Ähnlich sieht das Ehsan Khoman, Rohstoffexperte der Bank MUFG. Er warnt mit Blick auf nach wie vor hohe Preise für Rohöl, Gas oder Diesel: „Die Energiekrise ist noch längst nicht vorbei.“

Zuletzt hatten Rezessionssorgen die Nachfrage für viele industrielle Vorprodukte gedämpft – und auch die Preise gedrückt. Doch besonders in energieintensiven Branchen wie der Chemieindustrie sehen Experten kaum noch Luft nach unten für die Preise.

Kunststoffhersteller Covestro beispielsweise profitiert zwar gerade vom Rückgang bei Gas. Die jüngste Entwicklung könne aber nicht pauschal auf das ganze Jahr hochgerechnet werden, warnt das Unternehmen.

Starke Schwankungen auf den Rohstoffmärkten

Die dichte Abfolge von Krisen hat beispiellose Schwankungen an den Rohstoffmärkten ausgelöst. Als Reaktion auf die ersten Lockdowns 2020 waren die Rohstoffpreise zunächst weltweit eingebrochen. US-Rohöl fiel zeitweise unter die Marke von null Dollar. Der Kupferpreis – ein viel beachtetes Konjunkturbarometer – kostete zeitweise weniger als 5000 Dollar pro Tonne.

Der Aufschwung nach dem Ende der strengsten Coronamaßnahmen sorgte dann für einen rapiden Preisanstieg. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine verstärkte die Rohstoff-Hausse zudem, weil zur steigenden Nachfrage noch Sorgen um die Versorgungssicherheit kamen. Rohöl verteuerte sich zeitweise auf bis zu 150 Dollar pro Barrel. Der Gaspreis stieg auf bislang nie da gewesene Höchststände. Und auch Industriemetalle wie Nickel und Kupfer markierten neue Allzeithochs.

Die extremen Schwankungen wirken bis heute nach, sagt Lars-Peter Häfele, Geschäftsführer bei der Beratung Inverto in München. „Die Verunsicherung an den Märkten ist groß, und die Rohstoffproduzenten wissen das zu nutzen. Sie verstehen es, mit dieser Unsicherheit zu spielen.“

Das Handelsblatt nennt die Rohstoffe, bei denen die Unsicherheit besonders hoch ist – und worauf sich Unternehmen einstellen müssen:

Gas und Öl: Fossile Kostentreiber

Das Schlimmste scheint zwar überstanden: Noch im Sommer 2022 kostete eine Megawattstunde Erdgas zeitweise 350 Euro – das entsprach einem Anstieg von zeitweise 600 Prozent gegenüber den lange üblichen Notierungen. Getrieben wurde dies unter anderem von der Sorge vor einer Gasmangellage und einem harten Winter. Beides trat so nicht ein. Am Montag kostete eine Megawattstunde Erdgas am Spotmarkt etwa 55 Euro.

Der Rückgang bringt laut Experten aber keine große Entlastung in der energieintensiven Industrie. „Der überwiegende Teil der Industrie und gerade die Mittelständler haben längerfristige Lieferverträge mit Versorgern“, erläutert Häfele. „Einige mussten aber auch neue Kontrakte im vorigen Jahr zu dann geltenden Konditionen abschließen.“

Die Rekordpreise aus dem vergangenen Jahr spiegeln sich vielerorts erst jetzt in den Endkundenpreisen wider, denn Energieversorger kaufen einen Großteil ihres Strom- und Gasbedarfs in der Regel ein bis drei Jahre im Voraus ein.

Zwar gibt es ein paar wenige, die im vergangenen Jahr auf sinkende Preise gewettet haben und nun belohnt werden. Aber das sind nach Erfahrung von Energiefachleuten eher Ausnahmen. Selbst die Unternehmen, die ihren Gasbedarf ganz überwiegend über den Spotmarkt decken, sind vorsichtig – wie eben Kunststoffhersteller Covestro. Zumal Covestro keine Möglichkeit hat, Gas auf Vorrat zu speichern.

Verglichen mit den Vorjahren, sind Gaspreise schließlich immer noch auf einem sehr hohen Niveau. So kostete eine Megawattstunde Gas lange Zeit zwischen zehn und 15 Euro – also bis zu fünfmal weniger als heute. Dass die Preise wieder auf das Niveau vor der Krise fallen, halten Experten für unwahrscheinlich. „Ich gehe davon aus, dass der Gaspreis mittelfristig über dem Niveau von 2021 liegen wird, aber deutlich unter dem, was wir 2022 gesehen haben“, sagt Inverto-Experte Häfele.

Auch vom Ölmarkt können die Unternehmen kaum Entlastung erwarten. Der Rohölpreis pendelt sich derzeit auf hohem Niveau zwischen 80 und 85 Dollar pro Fass Brent-Öl ein. Investoren warteten noch, ob sich die Lockerungen der Coronamaßnahmen in China tatsächlich in einer erhöhten Nachfrage niederschlagen, so MUFG-Rohstoffexperte Ehsan Khoman.

Hinzu kommt, dass die EU ein Embargo für russisches Rohöl sowie Produkte wie Diesel und Kerosin verhängt hat. Die Margen von Ölraffinerien seien zuletzt wieder gestiegen, so Khoman, was höhere Preise bei Treibstoffen erwarten lasse. „Zusammengenommen birgt jeder Preisanstieg durch die Öffnung Chinas und die Entkopplung von russischem Erdöl das Risiko, die weltweite Inflation anzuheizen“, so Khoman.

Industriemetalle: Rezessionssorgen sind gebannt

Hohe Energiepreise und die Erwartung eines wirtschaftlichen Abschwungs lasteten im Sommer 2022 auf den Preisen für Industriemetalle, etwa Kupfer. Produzenten wie Glencore fuhren ihre Metallschmelzen in Europa runter – die Anlagen ließen sich angesichts der hohen Gaspreise nicht rentabel betreiben. Dadurch sank das Angebot.

Doch inzwischen geht der Kupferpreis stellvertretend für viele Industriemetalle wieder nach oben: Die Rezessionssorgen sind weitgehend gebannt – und die Aussicht auf jahrelang steigende Nachfrage beflügelt den Preis. Kupfer hat sich allein in den vergangenen sechs Monaten um knapp zehn Prozent verteuert.

Ähnlich verläuft die Preisentwicklung von Aluminium, Nickel oder Zink. Das liege vor allem an der Erholung der chinesischen Wirtschaft, sagt Mobeen Tahir, Analyst beim Vermögensverwalter WisdomTree: „Die chinesische Produktionstätigkeit ist ein Haupttreiber der Kupferpreise.“

Nicht nur die Nachfrage, auch das verfügbare Angebot wirke sich auf die Entwicklung des Kupferpreises aus. „Die Kupferbestände an den Börsen sind bedrohlich niedrig“, warnt Tahir. „Das ist ein Zeichen für eine Angebotsverknappung, die sich bei einem raschen Anstieg der Nachfrage noch verschärfen könnte.“

Auch die Rohstoffexperten der Bank of America (BofA) erwarten, dass der Kupferpreis im kommenden Jahr wieder in Richtung 10.000 Dollar pro Tonne steigt – und damit in die Nähe des Allzeithochs von vor knapp einem Jahr. Weil Kupfer ein auch für die Energiewende kritischer Rohstoff ist, warnen die BofA-Experten bereits, die hohen Rohstoffpreise könnten die Ausbauziele
für die erneuerbaren Energien gefährden.

Basischemie und Kunststoffe: Ringen um die Marge

Schon gegen Ende des Jahres 2020 waren die Preise für Massenkunststoffe weltweit in die Höhe geschossen. Der Beginn des Ukrainekriegs trieb die Preise für Polyethylen (PE) und Polypropylen (PP) dann auf neue Spitzen.

PE und PP sind die beiden wichtigsten Standardkunststoffe. Ihr rasanter Preisanstieg seit 2021 hatte zur Folge, dass alle weiterverarbeiteten Kunststoffe ebenfalls teurer wurden – und damit viele Endprodukte wie Folien und Verpackungen. Dieser zeitverzögerte Effekt trug so auch zur allgemeinen Inflation 2022 bei.

Seit Herbst 2022 sind die Preise dieser beiden wichtigsten Basiskunststoffe deutlich gesunken. Wegen der befürchteten Rezession kauften Kunden weniger ein oder räumten erst mal ihre Läger leer. So kostete PE im Januar nahezu 30 Prozent weniger als im Frühjahr 2022 und in etwa genau so viel wie Anfang 2021.

Doch auch auf diesem Markt gilt: Trotz der Rückgänge ist das Preisniveau noch deutlich über dem der Vor-Corona-Zeit. „Weitere Preissenkungen sind nicht absehbar. Im Gegenteil: Zuletzt sind die Standardprodukte wegen der besseren Nachfrage in Asien schon wieder etwas teurer geworden“, sagt Martin Bäcker, Preisexperte des Branchendienstes und Marktforschers Kunststoff Information. Bäcker gibt sich überzeugt: So billig wie vor der Pandemie würden Kunststoffe auf absehbare Zeit nicht mehr.

Zudem dürfte es Jahre dauern, bis die Beruhigung, die im Herbst 2022 einsetzte, beim Endverbraucher ankommt. Denn Chemieprodukte werden in verschiedenen Stufen bis hin zu Spezialprodukten weiterverarbeitet und Preisveränderungen erst verzögert weitergegeben. Markus Mayer, Chemieexperte bei der Baader Bank, geht davon aus, dass die Preise gerade in der
Spezialchemie auch in diesem Jahr noch hoch bleiben werden.

Hinzu kommt die allgemeine Erfahrung: So schnell Unternehmen mit Preiserhöhungen agieren, so zögernd sind sie bei Preissenkungen. Chemieexperten gehen davon aus, dass die Unternehmen auch bei sinkenden Einkaufskosten für Rohstoffe und Vorprodukte ihre Verkaufspreise verteidigen werden – und damit ihre Gewinnmargen.

Ob bei Energie, Industriemetallen oder Kunststoffen: Einkaufsexperte Häfele empfiehlt, dass sich Unternehmen im Rohstoffeinkauf breiter aufstellen: „Nur weil gerade alle Rohstoffe gut verfügbar sind, wäre es kurzsichtig, sich keine Gedanken über die Versorgungssicherheit zu machen.“ Es sei ratsam, alternative Lieferquellen zu erschließen – doch auch das treibt die Kosten.

Quelle: Handelsblatt vom 16.02.2023

Autoren: Jakob Blume, Bert Fröndhoff, Kathrin Witsch

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