Interview mit Paul Zahn, Managing Director, Inverto
Die Automobilbranche hat in Einkauf und Lieferkettenmanagement einen sehr hohen Reifegrad erreicht. Wo sehen Sie noch Optimierungsbedarf?
In der Zusammenarbeit! Seit über 20 Jahren wird darüber diskutiert, dass Lieferanten intensiver in die Entwicklung einbezogen werden und mehr kreative Freiräume bekommen. Dies könnte einen Schub an Innovationen ermöglichen, wobei die Produkte auch noch schneller als bisher zur Marktreife gelangen. Wenn die richtigen Anreize geschaffen werden, gibt es OEMs zusätzlich die Chance auf exklusive Wettbewerbsvorteile. Es gibt Beispiele, vor allem bei neuen OEMs, aber de facto sind Modelle strategischer Zusammenarbeit noch viel zu selten. Stattdessen überwiegt das althergebrachte Vorgehen, bei dem Anbieter konkrete Spezifikationen erhalten, die sie erfüllen müssen. Eine Aufgabenbeschreibung, für die neue Lösungen eingereicht werden können, wäre unserer Ansicht nach oft die bessere Strategie. Ebenso ein faktenbasiertes Verständnis dafür, welche Lieferanten in Zukunftstechnologien die richtigen Partner sind. Übrigens sehen wir das alte Muster nicht nur Im Verhältnis der OEMs zu den 1 -Tiers, sondern auch in den tieferen Gliedern der Lieferkette. Damit der Umstieg gelingt, sollten Einkaufsteams frühzeitig in die Produktentwicklung einbezogen werden, um zielgerichtet an den Produkten der Zukunft mitzuarbeiten – mit der Innovationskraft des gesamten Lieferantennetzwerks. Letztlich müssen Einkaufsteams weg vom Aufgaben erfüllen hin zum Zukunft gestalten.
Warum mehr Zusammenarbeit und warum gerade jetzt?
Die Branche steht vor enormen Herausforderungen: die Weiterentwicklung der neuen Antriebstechnologien, Autonomes Fahren, Dekarbonisierung, der Einstieg in die Kreislaufwirtschaft – und das alles unter den Bedingungen von Knappheit und Inflation. Durch eine engere Kooperation entlang der Lieferkette, aber auch zwischen Wettbewerbern, würden alle mehr gewinnen als sie zu verlieren haben. Der Einkauf mit seiner Schnittstellenfunktion ist im Aufbau und der Moderation intensivierter Zusammenarbeit besonders gefordert. Die Automobilindustrie sollte zudem bereit sein, von anderen Branchen zu lernen: In der Techbranche machen es Unternehmen wie Apple oder Dell vor, wie man eine Lieferkette strategisch in die eigene Entwicklung integriert.
Die gesamte Lieferkette war in den vergangenen beiden Jahren durch Störungen und Mangel belastet. Durch Kooperation lassen sich weder geschlossene Häfen öffnen noch fehlende Halbleiter ersetzen…
Ersetzen nicht, aber durch eine intensivierte Zusammenarbeit können die vorhandenen Ressourcen besser allokiert werden. Bei den Halbleitern zum Beispiel können durch offene Kommunikation die Bestände in der n-tier Kette so ausgeschöpft werden, dass am Ende die maximale Zahl Autos finalisiert werden kann. Die Versorgungsengpässe in diesem Sektor werden noch eine Welle anhalten, auch wenn sich zurzeit für einige Consumer Electronics Chips Überkapazitäten abzeichnen. Die Kapazitäten, die hier frei werden, helfen aber der Autoindustrie nicht weiter.
Inwieweit trägt die Digitalisierung des Einkaufs dazu bei, die Versorgung sicherzustellen?
Digitale Tools sind aus dem Risikomanagement und dem Monitoring der Lieferketten nicht mehr wegzudenken. Zumeist kommt hier Advanced Analytics zum Einsatz, also digitale Lösungen, die große Datenmengen verarbeiten und dadurch Erkenntnisse ermöglichen. Ziel ist in der Regel, Unterbrechungen in der Supply Chain frühzeitig zu erkennen, um gegensteuern zu können, bevor das eigene Band stillsteht. Künftig könnten viele dieser Systeme mit Künstlicher Intelligenz erweitert werden, so dass der Computer nicht nur auf drohende Störungen hinweist, sondern auch Handlungsoptionen aufzeigt. Wichtig bei allen Digitalthemen ist, dass die Menschen immer im Fokus stehen. Die modernste Software hilft nicht, wenn die Mitarbeitenden ihren Nutzen nicht verstehen und nicht ausreichend befähigt werden, um sie effektiv anzuwenden. „Go bionic“ heißt dies in der Welt unserer Muttergesellschaft BCG: Stellen Sie Ihren Einkauf so auf, dass er die Stärken
menschlicher Kreativität und digitaler Technologie bestmöglich kombiniert.
Und damit ist der Einkauf gegen Inflation, Rezession und Klimawandel gewappnet?
Die Einkaufsteams sind ein Teil im gesamten Unternehmensgefüge. Aber als direkte Verhandlungspartner der Lieferanten tragen sie maßgeblich dazu bei, dass die Kosten trotz Preissteigerungen und Knappheiten nicht aus dem Ruder laufen, und sie sind diejenigen, die für die Resilienz in der Supply Chain arbeiten. Nicht zuletzt unterstützt der Einkauf mit seiner Kenntnis der Lieferketten auch, um Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Deswegen ist jedes Unternehmen gut beraten, die Einkaufsabteilung technologisch optimal auszustatten und in die Kompetenzen der Mitarbeitenden zu investieren.
Quelle: Automobilwoche Sonderheft vom 30.10.2022
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