LOGISTIK HEUTE: Welche mittel- und langfristigen Belastungen kommen mit der Coronakrise auf Lieferketten zu?
Dr. Gökhan Yüzgülec: Es drohen Produktionsausfälle sowie Insolvenzen sowohl bei Lieferanten als auch im eigenen Unternehmen. Daraus können Lieferengpässe oder gar langfristige Lieferausfälle insbesondere bei global aufgestellten Unternehmen resultieren. Das wiederum kann zu Preissteigerungen für verfügbare Rohstoffe und Güter führen, auch wenn aktuell die Preise wegen des Nachfragerückgangs erst einmal gesunken sind. Abhängig von der Dauer der Krise kann es sogar zum ganzheitlichen Zusammenbruch bestehender Lieferketten kommen. All die Entwicklungen haben zur Folge, dass sich die Strukturen weltweiter Lieferketten dramatisch verändern werden. Es ist davon auszugehen, dass ein Umdenken und eine „Rückwärtsentwicklung“ stattfinden werden. Das heißt, die Fertigungstiefe bei den OEMs wird sich vermutlich wieder erhöhen, zudem werden die Produktionen der Unternehmen vermehrt in den Heimatmarkt zurückgeholt. In der Konsequenz wird es eine Verschiebung der Lieferketten geben, sodass Global Sourcing abnimmt, da Unternehmen vermehrt auf Local Sourcing setzen oder zumindest lokale Second Sources heranziehen.
Wie lässt sich eine kurzfristige Liquiditätskrise vermeiden?
Neben dem Schutz aller Mitarbeiter ist ein aktives Krisen- und Liquiditätsmanagement erforderlich. Unternehmen sollten sämtliche kurzfristigen Ausgaben kritisch prüfen und gegebenenfalls minimieren, verschieben oder gar streichen. Restbestände sollten bis zu einem gesunden Maß erst aufgebraucht werden, bevor neues Material bestellt wird. Zahlungsziele können verlängert werden – durch reine Nachverhandlungen oder aber durch Einführung von Reverse Factoring. Sonst ein sinnvolles Instrument, sollte das Realisieren von Skonti jetzt nach Möglichkeit vermieden werden, während Lieferungen nach Möglichkeit nur gegen Vorkasse erfolgen sollten. Auch sollten Unternehmen automatische Zahlungsläufe stoppen und zu frühe Zahlungen vermeiden. Die Mitarbeiter in der Buchhaltung sollten sensibilisiert werden, um vereinbarte Zahlungsbedingungen auszureizen. Falls nötig, sollte die Kreditlinie bei der Hausbank erhöht werden.
Wie können Firmen ihre Lieferkettenfinanzierung nun langfristig absichern?
Reverse Factoring wie auch Dynamic Discounting sind sicher geeignete Mittel dafür. Zudem können Produkt- und Servicespezifikationen angepasst und Nachverhandlungen mit Lieferanten geführt werden, um die Kostenposition zu stärken. Die Einführung eines systematischen Supply-Chain-Risikomanagements – also eines unternehmensübergreifenden Ansatzes, mit dem Risiken in der Supply Chain kollaborativ und proaktiv erkannt, bewertet und entsprechend behandelt werden können – ist das A und O, um Probleme schnell zu erkennen und proaktiv gegensteuern zu können.
LOGISTIK HEUTE: Online erschienen am 04.05.2020
Autorin: Therese Meitinger
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